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Über die Kürze des Lebens

Pantheon in Rom

Ein neues Jahr hat begonnen und im Rückblick stelle ich fest, dass das alte Jahr wieder wie im Flug vorbeiging. Vieles im alten Jahr war gut, aber auch manches nicht so gut. Ich bin nun schon 47 Jahre alt und habe oft das Gefühl, dass die Jahre, je älter ich werde, umso schneller vergehen.

Das Leben erscheint einem dann manchmal viel zu kurz. Auch vor über 2000 Jahren haben sich schon Denker und Philosophen Gedanken darüber gemacht.

 

Über die Kürze des Lebens

„Das Leben ist lang, wenn man es zu gebrauchen versteht.“

Von wem stammen diese Worte?

Sie entsprangen der Feder von Seneca, einem Gelehrten und Philosophen im alten Rom, der zur Zeit von Kaiser Nero lebte und dessen Lehrer, Erzieher, politischer Berater und schließlich Opfer er war.

Ich bin vor kurzem in der Bibliothek meines leider bereits verstorbenen Schwiegervaters, in welcher Unmengen von Büchern über griechische und römische Geschichte lagern auf ein kleines unscheinbares Taschenbüchlein von gerade einmal 90 Seiten gestoßen. Es heißt: ‚Seneca: De brevitate vitae – Die Kürze des Lebens‘.

In diesem Buch ist ein Brief Senecas an seinen Freund Paulinus abgedruckt. Paulinus widmet sein Leben seiner Karriere. Seneca fordert ihn auf sein schwieriges und mühevolles Amt aufzugeben und sich dem Philosophieren und Denken zuzuwenden, da dies das wahre Leben sei. Er führt dabei allerlei Argumente an, die auch in der heutigen Zeit noch, oder noch viel mehr, ihre Bedeutung haben.

Senecas Schriften waren schon zu seinen Lebzeiten vielbeachtete Werke. Mit seinen Ansichten war er ein Held der Jugend. Auch der Brief an Paulinus war nicht nur für diesen bestimmt, sondern eine Systemkritik und der Aufruf an die Menschen zur Umkehr auf den Pfad der Tugend.

Er ruft die Menschen auf ihre Zeit zu nutzen. Diese ist begrenzt und sollte einerseits nicht durch Müßiggang, Trunksucht und Völlerei und andererseits nicht durch das Streben nach Macht, Geld und Karriere verschwendet werden.

„Wir haben nicht wenig Zeit – nur vertan haben wir viel davon.“

Seneca will den Menschen klar machen, dass sie nur eine begrenzte Zeit haben um zu leben und unterteilt diese Zeit in wirklich gelebte Zeit und vertane, vergeudete Zeit.

Er will Paulinus aufrütteln, indem er ihn auf seine Vergänglichkeit und sein jederzeit mögliches Lebensende hinweist.

„Ihr lebt, als ob ihr immer leben würdet, nie kommt euch eure Vergänglichkeit in den Sinn, ihr verschwendet die Zeit und Hülle und Fülle, während vielleicht gerade jener Tag, den ihr irgendeinem Menschen oder irgendeiner Sache widmet, euer letzter ist.“

Seneca geht sogar noch weiter und spricht imaginär einen auf seinem Sterbebett liegenden alten Mann an.

„Wie wir sehen, bist du an die äußerste Grenze des menschlichen Lebens gelangt; hundert Jahre oder mehr lasten auf dir. Nun denn, zieh die Bilanz deiner Lebenszeit! Rechne aus, wieviel die Gläubiger, wieviel die Geliebte, wieviel der Patron, wieviel der Klient von dieser Zeit genommen hat, wieviel der Streit mit der Gattin, wieviel das geschäftige Umherlaufen in der Stadt…Bring dir dagegen Erinnerung, wann du fest bei deinem Entschluss geblieben bist, wie wenige Tage so verlaufen sind, wie du es dir vorgenommen hattest, wann dein Gemüt ohne Angst war… du wirst erkennen, du stirbst zu früh.“

Nachdem er Paulinus und allen anderen Lesern des Briefes durch das Vorzeigen ihrer Vergänglichkeit ordentlich ins Gewissen geredet hat wird er konkreter und beschreibt die Zeit- und somit Lebensverschwendung der Karriere- und Geschäftsleute.

„Sehr viele wirst du sagen hören: ‚Vom fünfzigsten Jahr an will ich mich ins ruhige Leben zurückziehen, das sechzigste Jahr wird mich von allen Verpflichtungen entbinden.‘ Wen bekommst du als Bürgen für ein längeres Leben?... Was für ein törichtes Vergessen der Sterblichkeit, vernünftige Vorsätze auf das fünfzigste oder sechzigste Jahr zu schieben und in einem Alter anfangen zu leben, bis zu dem es nur wenige bringen!“

Seneca konfrontiert Paulinus mit den Folgen seines Erfolgs und seinen Verpflichtungen. Er führt Beispiele aus der römischen Geschichte an, die ihre Macht und ihren Erfolg beklagten und sich nach einem einfachen Leben sehnten.

„Schau die an, denen man wegen ihres Erfolgs die Tür einrennt: sie ersticken an ihrem Glück. Wie vielen ist ihr Reichtum eine Last? Wie vielen saugt die Beredsamkeit und das Präsentieren ihrer Begabung, das sie täglich üben, alle Lebenskraft aus!“

Im Gegensatz dazu beschreibt er das Ideal eines seine Zeit wirkungsvoll nutzenden Menschen.

„Ein großer und über menschliche Irrtümer erhabener Mann bringt es fertig, sich von seiner Zeit nichts nehmen zu lassen, und deswegen ist sein Leben so lang, weil alle Zeit, die ihm zur Verfügung stand, ganz für ihn da war.“

Nachdem Seneca Paulinus und den Rest der römischen Gesellschaft auf ihre Fehler hingewiesen und ihnen ihre Vergänglichkeit und die Endlichkeit der Lebenszeit vor Augen geführt hat zieht er sein Fazit.

„Der, der jeden Tag so einteilt, als wäre er sein Leben, sehnt sich nicht nach dem folgenden Tag und fürchtet sich nicht davor.“

„Jeder überstürzt sein Leben und leidet an der Sehnsucht nach dem Kommenden und dem Ekel vor dem Gegenwärtigen.“

Mit diesen Aussagen macht Seneca deutlich, dass sich das Leben nur jetzt entfaltet. Hier und diesem Moment. Wer jeden Tag und jeden Moment nutzt um wahrhaft zu leben wird Glück und Erfüllung finden und braucht sich nicht immer nur nach einer besseren Zukunft zu sehnen und in Gedanken in diese entfliehen.

Wenn man diese fast 2.000 Jahre alten Worte von Seneca liest, kommt man zu dem Schluss, dass die Zustände im alten Rom, den unseren sehr ähnlich gewesen sein müssen. Auch er lebte in einem übersättigten, an Dekadenz leidenden System, in welchem die Werte falsch gesetzt wurden.

Was können wir daher von Seneca lernen?

Schon als Kinder werden wir nach unseren Noten beurteilt. Diese entscheiden schließlich darüber, ob wir später einen „anständigen“ Beruf mit Karrierechancen und finanziellem Wohlstand erlangen können.

Aufgrund dieser Vorgaben entwickeln wir die Einstellung, dass wir Glück und Erfüllung nur durch Status, Macht und Geld erlangen können.

Wir bemühen uns daher unsere Karrieren voranzutreiben, wundern uns aber warum sich das ersehnte Glück nicht einstellen will, sondern immer weiter entschwindet. Unser Leben gefällt uns nicht, wir empfinden es als Bürde und wir sehnen uns nach ruhigeren Zeiten. Gedanken und Aussagen wie, „Wenn die Kinder erstmal groß sind“ oder „Wenn ich mal in Rente bin“ oder „Ich kann das Wochenende oder den nächsten Urlaub kaum erwarten“, prägen unseren Alltag.

Und jetzt kommt das Paradoxe an der ganzen Sache. Anstatt zu erkennen, was der Grund für unser Unglück ist, glauben wir der Grund sei, dass wir uns noch nicht genügend angestrengt haben, dass wir noch mehr Macht und Geld brauchen. Das Glück wird sich dann schon einstellen. „Wenn ich erst einmal x-Millionen auf dem Konto habe, dann wird alles gut.“

Ich will hier nicht falsch verstanden werden. Harte Arbeit, Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer und Willenskraft sind Tugenden und Fähigkeiten, die zur Entwicklung der Persönlichkeit unentbehrlich sind. Seneca sagt ja selbst, dass Müßiggang, Trunksucht, Völlerei und Ziellosigkeit ein mindestens genauso großes Übel sind.

Worauf Seneca hinaus will ist, dass die Menschen erkennen, was es bedeutet ein lebenswertes Leben zu leben. Ein Leben, das einen jeden Moment erfüllt, ein Leben, das einen tieferen Sinn hat. Ein Leben, das einen in sich ruhen lässt, anstatt rastlos zu sein. Wer dieses Leben für sich entdeckt wird sich automatisch anstrengen und danach streben seine Tugenden weiter zu vertiefen.

Was soll das für ein Leben sein?

Jeder von uns muss sich fragen: „Welche Tätigkeiten, Ereignisse und Begebenheiten bescheren mir Gefühle von Glück, Liebe, Freude, Verbundenheit und Dankbarkeit? Bei welchen Tätigkeiten ruhe ich in mir? Was fühlt sich natürlich und meinen Talenten entsprechend an?“

Der Hintergrund ist, dass jeder einzelne von uns ein einzigartiges Individuum ist. Keiner gleicht aufs Haar genau dem anderen. Jeder von uns besitzt Talente, die nur er selbst hat. Kein anderer Mensch kann auf die gleiche Art und Weise denken, fühlen und handeln wie du.

Diese Talente zu erforschen, zu entdecken und in unser Leben zu integrieren ist unsere wahre Aufgabe. Sie sind das Geschenk, das Gott uns auf unserer Reise mitgegeben hat.

Dann erschaffen wir etwas, was individuell ist und aus unserem Inneren kommt. Dann sind wir ein Geschenk für uns und die Menschheit.

Wir leben nur eine begrenzte Zeit hier auf Erden. Das Leben ist vergänglich und wir haben keine Gewissheit, dass der morgige Tag garantiert ist. Jeder von uns kennt Menschen, die aus heiterem Himmel aus dem Leben gerissen wurden oder einen schweren Schicksalsschlag erleiden mussten.

Vor diesem Hintergrund will auch ich ähnlich wie Seneca fragen: Was soll auf deinem Grabstein stehen, was soll in deiner Grabrede über dich gesagt werden? ‚Er/Sie hatte ein großes Haus, schaffte es bis zum Abteilungsleiter und lief immer mit schönen Kleidern und vorbildlicher Frisur durch die Gegend‘.

Stell dir vor deine Träume und Talente kommen an dein Sterbebett, schauen dich wütend an und klagen: ‚Wir stehen hier, unverwirklicht, und werden mit dir begraben! Nur du hattest die Macht uns Leben zu geben. Nun werden wir für immer mit dir begraben sein! Schande über dich!‘

Lassen wir es nicht soweit kommen! Fangen wir an zu leben!

Wenn wir unser Leben und unsere Zeit verschwenden wird es uns zu kurz vorkommen. Ich will daher mit den gleichen Worten von Seneca enden, mit denen ich begonnen habe.

„Das Leben ist lang, wenn man es zu gebrauchen versteht.“

 

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Kommentar von Jahn |

Hallo Harry,

das ist wirklich ein spannendes Thema, mit dem Du Dich hier auseinandersetzt.

Tatsächlich befasse ich mich mit solchen Themen auch in den letzten Jahren immer mehr. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass unser Glück immer nur von innen kommen kann und trotzdem strebe ich weiter und weiter nach mehr Leistung und äußerem Erfolg. Wirklich spannend!

Ich wünsche Dir noch ein erfolgreiches Jahr 2020 und viel Erfolg auf Deinem Weg! :)

Liebe Grüße
Jahn

Antwort von Harry Spitzer

Hallo Jahn,

vielen Dank für deine Wünsche. Ich verfolge deinen Blog schon eine ganze Weile und finde deine Art zu schreiben und die Vielfalt deiner Themen sehr gelungen.

Mit meinen mittlerweile 47 Jahren versuche auch ich noch immer stärker, schneller, beweglicher, usw. zu werden. Trotzdem bekommt die seelische Seite, je älter ich werde, einen immer höheren Stellenwert.

Training, Leistung und ein athletischer Körper machen mir Spaß, sollen aber meinen Selbstwert nicht definieren.

In diesem Sinne auch dir viel Erfolg.

LG

Harry

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